Whispers Among the Shelves

Geflüster zwischen den Regalen

Die älteste Bibliothek der Stadt stand wie ein Denkmal der Zeit selbst – ihre hoch aufragenden Bücherregale waren in das schwache Licht der Messingleuchter getaucht, ihre Luft war erfüllt vom Duft von Tinte, altem Pergament und einer stillen Ehrfurcht vor der Vergangenheit. Grete hatte hier zahllose Nachmittage verbracht, eingehüllt in die Stille des Umblätterns und das gelegentliche Rascheln eines Gelehrten, der sich auf seinem Stuhl hin und her bewegte.

Heute Abend war es jedoch anders. Heute Abend suchte sie nach etwas schwer Auffindbarem – einem obskuren Manuskript, das Gerüchten zufolge in den verbotenen Archiven versteckt war.

Während sie sich durch das Labyrinth der Regale bewegte, ließ sie ihre Fingerspitzen über die Buchrücken gleiten, die in rissiges Leder gebunden waren und goldgeprägte Titel hatten. Die Welt draußen – ihre grellen Lichter, ihre hastigen Schritte – verschwand hier ins Nichts. Dies war ihre Kathedrale, ein Ort, an dem die Zeit nicht einfach verging; sie legte sich und legte sich über jedes Wort, das in diese Wände eingraviert war.

Sie erreichte die hinterste Ecke der Bibliothek, wo eine alte Holzleiter an einem hoch aufragenden Bücherregal lehnte. Irgendwo in den oberen Regalen, das wusste sie, war der Text, den sie suchte. Sie holte tief Luft und kletterte hinauf, ihr Herz schlug vor Vorfreude schneller. Und dann – da. Ein schmaler, unscheinbarer Band, eingeklemmt zwischen Werken mittelalterlicher Poesie. Als sie ihn herauszog, fiel ein brüchiges Stück Pergament zu Boden.

Sie sprang herunter und holte die zerbrechliche Notiz heraus. Die Tinte war verblasst, aber leserlich:

„Manche Bücher sind dazu bestimmt, im richtigen Moment gefunden zu werden. Du bist genau dann angekommen, als du es solltest.“

Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie blickte sich um und erwartete fast, einen Schatten zu sehen, der sich in die Dunkelheit zurückzog, einen unsichtbaren Hüter von Geheimnissen, der sie beobachtete. Aber sie war allein. Oder vielmehr allein mit der Last des Wissens, das seine Autoren längst überlebt hatte.

Als die Lichter der Bibliothek flackerten und die nahende Schließzeit ankündigten, drückte Grete das Buch an ihre Brust. Sie würde morgen wiederkommen – dessen war sie sich sicher.

Später am Abend rollte sich Grete in ihren Ledersessel, das Buch lag neben ihr, vorerst unberührt. Die goldene Flamme ihrer Kerze flackerte und warf Schatten, die über die Wände tanzten, die mit ihren eigenen wertvollen Bänden gesäumt waren. Sie schloss die Augen und atmete tief ein – Bernstein, schwarzer Tee und die unverwechselbare Wärme von gealtertem Papier.

Velvet Volumes. Es war der Duft von Bibliotheken, unberührt von der Zeit, von tintengetränkter Weisheit, die über Generationen weitergegeben wurde. Sie hatte die Kerze schon unzählige Male angezündet, aber heute Abend fühlte es sich anders an. Es war nicht mehr nur ein Duft; es war ein Schlüssel, der Erinnerungen an geflüsterte Entdeckungen, an nächtliche Lesungen im Lampenlicht, an ihr unaufhörliches Streben nach Wissen freisetzte.

Als der Regen sanft gegen die Fensterscheibe prasselte, griff sie noch einmal nach dem Manuskript. Die Nacht lag vor ihr, voller unerzählter Geschichten, die darauf warteten, ans Licht zu kommen. Und Grete war wie immer bereit, sich zwischen den Seiten zu verlieren.

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